Breitlippennashorn
Das Breitmaulnashorn (Ceratotherium simum) oder Breitlippennashorn ist ein Säugetier aus der Familie der Nashörner. Die teilweise gebrauchte Bezeichnung Weißes Nashorn leitet sich vom englischen Trivialnamen White rhinoceros ab. Die Art lebt in den Grassavannen Afrikas und stellt den einzigen noch lebenden Vertreter der Gattung Ceratotherium dar. Zudem ist das Breitmaulnashorn die größte rezente Nashornart.
Der Schädel des Breitmaulnashorns weist eine Länge von 70 bis 85 cm auf. Er besitzt ein lang ausgezogenes spitzwinkliges Hinterhauptsbein, was die tiefe Kopfhaltung dieser Nashornart bewirkt. Am Hinterhauptswulst setzt die mächtige Nackenmuskulatur zur Haltung des tiefhängenden Schädels an. Das Nasenbein ist breit und teils nach vorn gebogen. Die Stirnlinie weist eine deutliche Einsattelung auf.
Der Unterkiefer ist sehr massiv, die Symphyse breit und spachtelartig geformt. Aufgrund des Fehlens der vorderen Bezahnung ist die Zahnanzahl deutlich reduziert, die Zahnformel des erwachsenen Tieres lautet:. Allerdings sind embryonal noch Schneidezähne nachweisbar. Allgemein weisen die Backenzähne eine sehr hohe Zahnkrone auf, sind also hypsodont, der hinterste Molar wird bis zu 13 cm hoch. Der Anteil an Zahnzement ist sehr hoch.
Die beiden Hörner des Breitmaulnashorns bestehen aus Keratin, das aus tausenden langgezogenen Fäden (Filamente) geformt ist und eine hohe Festigkeit besitzt. Sie wachsen ähnlich wie Haare oder Fingernägel während des gesamten Lebens, auch wenn sie beschädigt werden. Das vordere Horn (Nasalhorn) sitzt auf dem Nasenbein, das hintere (Frontalhorn) auf dem Stirnbein. Beide sind an ihrer Basis nicht verbunden. In der Regel besitzen sie eine konische Form und sind nicht so deutlich nach hinten gebogen wie beim Spitzmaulnashorn. Das vordere Horn ist länger und wird bis zu 100 cm lang, das längste jemals gemessene Horn wies eine Länge von 158 cm auf. Das hintere Horn ist mit 50 cm deutlich kürzer. Kühe haben meist längere und wesentlich schlankere Hörner als Bullen.
Meist dient das Horn als Waffe gegen Raubtiere oder im Dominanzkampf, spielt aber auch bei der Kontaktaufnahme zu anderen Nashörnern eine wichtige Rolle. Bei der Nahrungsaufnahme wird das vordere Horn häufig über den Boden geschleift, wobei sich deutliche Abriebspuren bilden.
Das Breitmaulnashorn ist ein Bewohner der Lang- und Kurzgrassavannen Afrikas, es bevorzugt aber eher Gebiete mit kurz gewachsener Vegetation sowohl in Hoch- als auch in Tiefländern. Trotz seiner weitgehend grasenden Ernährungsweise und der daraus evolutiv entstandenen Merkmale ist es kein vollständig an offene Landschaften angepasstes Tier. Zum Schutz vor der intensiven Sonneneinstrahlung benötigt es niedriges und hohes Buschwerk, das ihm ausreichend Deckung und Schatten spendet. Das optimale Habitat umfasst Grasländer mit eingestreuten Busch- und Walddickungen oder angrenzenden offenen Waldlandschaften. Dabei zieht es die Nähe von Gewässern vor. Ist diese Nähe nicht gegeben, unternimmt es regelmäßige Wanderungen zu geeigneten Wasser- und auch Suhlstellen.
Das Breitmaulnashorn war ursprünglich deutlich weiter verbreitet, als es die historischen Vorkommensgebiete im Kolonialzeitalter vermuten lassen. So kam es noch vor etwa 2000 Jahren den Nil hinauf bis ins südliche Ägypten vor und dürfte einen großen Teil Nordwestafrikas besiedelt haben. Felsmalereien und Knochenfunde deuten darauf hin, dass es vor rund 3.500 Jahren sogar den äußersten Norden Afrikas, etwa Marokko und Libyen besiedelt hat. Das neuzeitlich bekannte Verbreitungsgebiet beschränkt sich auf zwei isolierte Vorkommen im südlichen und im zentralen Afrika.
Bis vor kurzem existierten in freier Wildbahn zwei Unterarten des in afrikanischen Savannen heimischen Breitmaulnashorns:
Das Breitmaulnashorn ist dämmerungsaktiv und rastet tagsüber in schattigen Regionen. Es ist ortstreu und lebt in Gruppen von zwei bis sechs Tieren, bestehend aus dem Muttertier mit ihrem Jungen und weiteren heranwachsenden Tieren. Manchmal kommt es auch zu größeren Verbänden mit bis zu zwanzig Nashörnern, diese stellen aber meist nur temporäre Zusammenkünfte an Wasserstellen dar. Jungbullen werden in den Gruppen geduldet, solange sie keine Paarungsversuche unternehmen. Eine solche Gruppe bildet einen eher lockeren Verband, der sich bei Gefahr einigelt, also einen Kreis bildet mit den hornbewehrten Schädeln nach außen. Das Streifgebiet einer Kuh variiert zwischen 10 und 15 km², meist mit einem Kerngebiet von 6 bis 8 km² und überlappt sich mit denen von mehreren Bullen. Die Größe des Streifgebiets ist abhängig von der Qualität des Nahrungsangebotes und dem Vorhandensein von Wasser.
Ausgewachsene Bullen leben allein und haben ein festes Revier von 1 bis 9 km², nach anderen Angaben auch bis zu 70 km². Die Größe ihrer Reviere variiert abhängig von der Anzahl der Nashörner in einem Gebiet. Das Territorium wird in der Regel von einem dominanten Bullen (Alpha-Bullen) gegenüber anderen ausgewachsenen Bullen verteidigt. Der Territoriumsbesitzer hat hier das Vorrecht über die Verpaarungen mit den Weibchen. Grenzüberschreitungen durch andere territoriale Bullen führen zu hoch ritualisierten Kämpfen, wobei die Hörner zum Einsatz kommen. Junge Bullen und andere Kühe werden im Revier geduldet.
Markiert werden die Territorien durch feste Kotplätze an den Grenzen, die an besonders markanten Stellen und Gebietsgrenzen von mehreren Tieren genutzt werden, wobei große Dunghaufen entstehen können. Dominante Bullen verteilen ihren Kot mit den Hinterhufen. Oft begangene Wege werden zudem durch Verspritzen von Harn markiert, was alle 100 m passieren kann. Das Harnlassen ist ebenfalls hochritualisiert, wobei vorher am Boden oder an Sträuchern mit den Hufen gekratzt wird und diese Kratzspuren mehrmals bespritzt werden. Außerhalb ihres eigenen Territoriums hinterlassen Bullen aber keine Urinspuren.
Das Breitmaulnashorn gilt als wenig angriffslustig, normalerweise hält es seinen Kopf immer nach unten, nur bei erhöhter Aufmerksamkeit schaut es auf. Die normale Trabgeschwindigkeit liegt bei etwa 15 bis 30 km/h. Ein wütendes Breitmaulnashorn kann aber zu einem gefährlichen Gegner werden, da das lange Horn als Waffe eingesetzt wird. Beim Angriff oder auf der Flucht kann ein Tier im Galopp auch 40 km/h erreichen und sehr schnell die Richtung ändern. Da die Nashornart wie alle Nashörner schlecht sehen kann, besitzt sie kein visuell erkennbares Ausdrucksverhalten, was sie für Menschen unberechenbar macht.
Das Breitmaulnashorn bevorzugt Grasnahrung (grazer), sein tiefhängender Kopf, die breiten Lippen und die hochkronigen Zähne sind hervorragende Anpassung an diese Ernährungsweise. Dabei nimmt die Nahrungsaufnahme fast 50 % der Tagesaktivitäten ein. Überwiegend ernährt es sich von kurzen Gräsern. Im südlichen Verbreitungsgebiet dienen vor allem verschiedene Hirseformen wie Panicum, Urochloa und Digitum als Nahrungsgrundlagen, die in schattenreichen Gebieten der Rotgrassavannen (Themada triandra) wachsen. Des Weiteren werden auch Hundszahngräser (Cynodon) und verschiedene Süßgräser (unter anderem Hyparrhenia) verzehrt. In Zeiten der Nahrungsknappheit werden aber auch Seidenpflanzengewächse wie Stapelia und Sarcostemma nicht verschmäht. Im nördlichen Verbreitungsgebiet dienen häufig Arten der Lampenputzergräser (Pennisetum) als Nahrungsgrundlage.
Wasser trinkt das Breitmaulnashorn wenn möglich täglich, wozu es die Weidegebiete verlässt und Wasserstellen aufsucht. Die nächste Wasserstelle sollte aber nicht weiter als wenige Kilometer entfernt sein. Sofern notwendig, kommt die Nashornart aber auch zwei bis vier Tage ohne Wasser aus.
Sehr häufig sucht das Breitmaulnashorn auch Suhlstellen für Schlammbäder auf, wo es sich für gewöhnlich rund eine Stunde aufhält und meist bewegungslos liegt. Gewöhnlich erfolgt dies in der Tageshitze oder während der Abenddämmerung. Finden sich zu ungünstigen Jahreszeiten keine Suhlstellen, nimmt das Breitmaulnashorn auch Sandplätze als Ersatz. Diese Bäder sind für die Thermoregulation notwendig, aber auch um Parasiten zu bekämpfen. Wasserbäder wie bei den asiatischen Nashörnern sind beim Breitmaulnashorn aber nicht bekannt.
Breitmaulnashörner zeichnen sich durch ein promiskes Paarungsverhalten aus, d. h. sie verpaaren sich häufig mit wechselnden Partnern. Die Hälfte aller Weibchen sind jedoch sehr partnertreu (monogam) und zeugen immer mit dem gleichen Bullen Jungtiere. Sie leben mit diesem Männchen jedoch nicht in einer Paarbeziehung, sondern kommen mit ihm nur zur Verpaarung zusammen (genetische Monogamie). Weibchen unterscheiden bei der Verpaarung nicht zwischen verwandten Tieren und verpaaren sich selbst mit ihrem Vater. Hierdurch kommt es gerade in kleineren Reservaten zu einem hohen Grad an Inzucht und genetischer Verarmung. Der Verpaarungserfolg der territorialen Bullen variiert stark, die Gründe hierfür liegen vermutlich in der Partnerwahl der Weibchen. Die Fortpflanzung der Nashörner ist stark saisonal. Mit dem Beginn der Regenzeit steigt der Hormonspiegel (Androgene) der Männchen an und es kommt vermehrt zu Kämpfen zwischen Bullen und Kühen. Als Folge davon steigt auch die Anzahl der Verpaarungen in der Regenzeit.
Weibliche Jungtiere werden mit sechs bis sieben Jahren geschlechtsreif, männliche mit zehn bis zwölf. Bei Kühen kommt es alle 29 bis 44 Tage zur Brunst, wobei sie sich von der Gruppe absondern und auffallend häufig markieren, was deckwillige Bullen anlockt. Nach einem bis zu einem Tag dauernden Vorspiel mit Reiben, Kopfauflegen und Scheinkämpfen kommt es schließlich zur Begattung, die 20 bis 80 Minuten dauern kann und mit dem Aufsitzen des Bullen auf der Kuh beginnt. Zeitweise stößt der Bulle dabei alle drei Minuten Samen aus. Nach der Vereinigung kehrt das Weibchen meist zur Gruppe zurück.
Die Tragzeit dauert etwa 16 bis 18 Monate, nach Beobachtungen an Zootieren variiert sie von 480 bis 548 Tagen. Kurz vor der Geburt verlässt die trächtige Kuh die Herde und bleibt für einige Tage allein. Das einzige Kalb, welches zur Welt kommt, wiegt bereits 40 bis 60 kg und kann nach einer Stunde bereits stehen, um Milch zu saugen. Es ist mit einem leichten dunkelfarbenen Fell bedeckt, welches später ausfällt. Außerdem weist es an der Stelle, wo das vordere Horn ist, eine schwarze Erhebung auf, und die Hufe haben ebenfalls eine schwarze Färbung. Nach 24 Stunden ist das Kalb in der Lage, der Mutter zu folgen, läuft aber gewöhnlich leicht vor ihr. Es wird etwa ein Jahr lang gesäugt und nimmt bereits zwei Monate nach der Geburt auch Gras zu sich. Allerdings wächst es recht langsam und wiegt nach einem Jahr rund 440 kg. Erst nach zweieinhalb bis drei Jahren wird die Mutter wieder brünstig und vertreibt dann das Junge. Nach der Geburt des nächsten Kalbes und nach den ersten Wochen gesellt sich häufig auch das letzte Junge wieder zu seiner Mutter. Die Lebensspanne eines Breitmaulnashorns liegt bei 40 bis 50 Jahren.
Wie alle rezenten Nashornarten wird auch das Breitmaulnashorn von zahlreichen Zecken und Fliegen (u. a. Lypeosia) angefallen. Im Magen wurden Larven der Dasselfliegen nachgewiesen, die Eier in die Haut an Kopf und Schulter ablegen. Weitere Endoparasiten stellen Wimperntierchen dar. Bekannt ist auch, dass Neospora caninum zum Auftreten von Neosporose führt und ähnlich wie bei Hausrindern Aborte beim Breitmaulnashorn verursacht. Auch Piroplasmose-Parasiten (Babesia und Theileria) sind nachgewiesen.
Laut der Roten Liste der IUCN gab es am 31. Dezember 2017 schätzungsweise 18.064 Breitmaulnashörner in freier Wildbahn. Derzeit wird diese Art als "Near Threatened" (NT) eingestuft, und ihre Zahl ist heute abnehmend.
Ausgewachsene Breitmaulnashörner haben keine natürlichen Feinde; gelegentlich greifen Löwen Jungtiere an. Es besteht eine enge positive ökologische Beziehung zum Afrikanischen Elefanten, dessen Herden die Busch- und Baumvegetation eindämmen und so Offenlandschaften erzeugen, die das Breitmaulnashorn nutzt. Manchmal kommt es auch zu gemeinsamen Weideverbänden mit dem Spitzmaulnashorn. Symbiotische Beziehungen gibt es auch mit dem Gelbschnabel-Madenhacker (Buphagus africanus), dem Kuhreiher (Bubulcus ibis) und dem Rotschulter-Glanzstar (Lamprotornis nitens). Die Vögel picken häufig Insekten von der Haut des Nashorns und wirken überdies auch als Alarmsignal bei erschrecktem Aufflattern.